Diplomtrainer und Sportheilpraktiker -
Doping: Gut trainierte Scheinheiligkeit

 

Solange das Bild des Siegers um jeden Preis dominiert, ist Doping nicht zu bekämpfen. Der Sport müsste nach Canossa gehen. Er wird es nicht tun.

Von Ines Geipel. Freitag, 01.09.06, in: www.welt.de

 

Es war der 30. Juni, da der erfolgreichste deutsche Radprofi Jan Ullrich - entschlossen, kernig und auffallend gut austrainiert - in die Kameras erklärte, er sei in der Form seines Lebens. Zum zweiten Mal in seiner Laufbahn habe er das Zeug, die legendäre Tour de France zu gewinnen. Die Fans atmeten hörbar auf. Nach dem verbissenen Dauergewinner Armstrong standen die Chancen für einen großen, weil gelassenen deutschen Sportsommer demnach überaus gut: Noch verzauberte die sympathischste Kicker-Crew der Welt das ganze Land. In der Verlängerung aber würde der einsame Held Ullrich die Alpen erstrampeln, um in Paris später als Erster das Siegband zu zerreißen. Was konnte es Schöneres für die heitere deutsche Sportseele geben?

Es war noch am selben 30. Juni, als Jan Ullrich wegen schwerer Dopingvorwürfe aus dem Verkehr gezogen wurde. Der Held bockte und schwieg. Man hielt den Atem an, denn der so groß gedachte Sportsommer hatte einen spürbaren Riss bekommen, der zum Leidwesen der Millionen Fans nun mit jedem Tag größer wurde. Von Stund an bekam das verschreckte Publikum durch immer neue Hiobsbotschaften ein System vorgeführt, das unheilvoll zum Himmel stank: gefallene, weil dopingschwangere Helden, Razzien, Verhaftungen, jede Menge schmutziges Blut, ein sinistres Hintermännertum und nicht zuletzt Politiker und Funktionäre, die wissentlich, mitunter aus Unvermögen, oft aus Kalkül und Machtinstinkt, die Entwicklung zum Monstersport hin ermöglicht hatten.

Das sah nicht gut aus. Viel Chemie gleich viel Sieg gleich viel Schaden. Der Sport zunehmend eine Fiktion? Der Sieg nur noch Pharmazie? Das Spiel ein Fake? Der Held im Grunde ein Verlierer? Das Ganze am Ende gar Metapher für den Zustand eines Landes? "Wer hat was gewusst? Wer hat geholfen? Wer hat die Manipulationen gedeckt?", insistierte Doktor Thomas Bach, oberster Sportchef des Landes, kurz nach der geplatzten Doping-Blase barsch. Tja, wenn man das nur wüsste, raunte man sich bei so viel gut trainierter Scheinheiligkeit brav zu.

Peter Danckert, sportpolitischer Sprecher der SPD und Vorsitzender des Sportausschusses forderte in der ersten Welle der Debatte gar schnell "eine Allianz der Vernunft". Großartig und erstaunlich amnestisch zugleich. Denn der Zustand des deutschen Pharma-Sports war allen, die mit dieser Materie befasst sind, lange und umfassend bekannt. Im Sinne eines multikausalen Desasters lag ihm ein hochexplosives Gemisch aus Verantwortungslosigkeit, historischen Kontinuitäten und Profitgier zugrunde. Ein Tanz auf dem Vulkan, bei dem die gesuchten Hintermänner eher öffentlich, sozusagen in vorderster Front agierten. So konnte man die Idee des Sports noch sorgloser und ungebrochener plündern.

Seit den Bundestagsdebatten der Siebzigerjahre und dem nur wenig früher etablierten DDR-Zwangsdoping-System waren die Weichen hin zu einem explizit kriminell agierenden Sportsystem gestellt und von da an nie mehr verändert worden. Erstaunlich höchstens die Radikalität, mit der der Steroid-Sport Ende der Achtzigerjahre durch die Blutdoping-Ära ausgetauscht wurde, bis diese - nach Aussage des australischen Doping-Experten Robin Parisotto - im Jahre 2001 durch Gen-Doping ersetzt wurde. Erstaunlich könnte noch sein, mit welcher Hartleibigkeit Nationales Olympisches Komitee (NOK) und Deutscher Sport Bund (DSB) - vereint im heutigen DOSB - ungeachtet der historischen Hypothek jeglichen Satisfaktionsbedarf gekonnt umschifften.

Das vereinte Sportprogramm nach 1989 kannte keinen Bruch, sondern suchte hingebungsvoll nach "Vereinigungseffekten". Es fand sie sogar: Die Märkte verschmolzen, das Know-how begegnete sich, die Menschenbilder gingen ineinander, die Personage blieb am liebsten die alte, der Sport wurde zunehmend global. Das Phänomen Doping - Metapher fürs Entgrenzen und Betrug - ging mehr und mehr ins globale Blut über und bildete neuartige Metaboliten.

Eine neue Ära war im Anmarsch, mit der Gen-Supersubstanz Repoxygen. Nicht mehr kontrollierbar funktioniert es als eine Art Eigensystem, bei dem sich jegliches Analyseverfahren erübrigt. Das ostdeutsche Erfolgspaar Grit Breuer und Thomas Springstein gab Anfang 2006 der Öffentlichkeit eine beeindruckende Demonstration darin, wie der komplett eingestellte Pharma-Athlet heute aussehen könnte: kaum eine Trainingsphase ohne Chemie. Im Giftköcher so ziemlich alles, was den Muskel animiert. Die drei großen Doping-Phasen - Steroide, Blutdoping und Gentechnik in einem Körper zusammen. Vereinigungseffekte?

Als Robin Parisotto 1995 reichlich 200 amerikanische Olympioniken befragte - Würden sie Substanzen einnehmen, die sie fünf Jahre lang jeden Wettkampf gewinnen ließen, selbst wenn sie dabei den Tod riskierten? - lautete das Ergebnis: Mehr als die Hälfte würde es tun. Die Welt, in der sich der moderne Gladiator im Stadion die Spritze setzt und Minuten später vor den Augen des Publikums verreckt - gehört nicht mehr ernsthaft in den Bereich der Fiktion. Mit Blick auf die Olympiade 2008 in China wird sich die These erneuern, dass die innige Begegnung von einrutschenden Diktaturen mit dem freien Markt den Zugriff auf das "Menschenmaterial", in dem Fall auf junge Athleten, drastisch erhöht. Vom brutalen Preis im Zuge dieser transhumanen Expansion haben ostdeutsche Athleten öffentlich berichtet. Deren Todesliste ist lang, nicht wenige von ihnen sitzen in geschlossenen Psychiatrien oder sind irreversibel krank. Der deutsche Sport hat deren Erfahrungen nicht aufnehmen wollen, sondern um sie den denkbar weitesten Bogen gemacht.

Auf die Frage, welche Erfolge wir in diesem Land wollen und welchen Preis wir bereit sind, für sie zu zahlen, versucht der aktuelle hemdsärmlige Aktionismus in Sachen Antidoping erst gar keine Antwort. Die nun seit acht Wochen laufende Debatte wird auf den sakrosankten Sportler reduziert. Soll er nun kriminalisiert werden oder nicht? Soll es mehr Staat im Sport geben oder nicht? Der Streit wird auf engstem Raum geführt, denn das System Doping hat starke Interessenvertreter: Politik, Funktionäre, Lobbyisten, Trainer und Ärzte, Medien, Sponsoren, nicht zuletzt Pharmaindustrie und Schwarzmarkt. Sie alle müssen davon ausgehen können, dass das Spiel ewig so weiter läuft.

Aus diesem Grund auch ist das Land über Nacht zum großen Saubermann, zu einem wild entschlossenen Antidoping-Deutschland geworden. Alle wollen es schon immer gewusst haben. Am lautesten die, die jedwede Aufklärung über das hochmafiöse, verseuchte Sportsystem jahrelang hartnäckig unterdrückt haben. All dies gehört jedoch höchstens in die Rubrik Desinformationsstrategie. Eine kategorische Distanzierung vom Sportleitbild des ewigen Siegers ist nicht in Sicht. Dafür hockt es zu tief in den Köpfen.

Wollte man dem Pharma-Irrsinn ernsthaft etwas entgegensetzen, müsste der Sport zu einem Canossa-Gang bereit sein. Nichts ist so wenig in Sicht wie diese Anstrengung. Die Scheinargumente Thomas Bachs, die wirre Politik von Verbandschefs aus der Leichtathletik oder dem Radsport, Doping-Netze, die nach wie vor ungestört mit Substanzen hantieren, die von keinem Kontrollsystem erfasst werden, die windelweiche, fahrlässige Haltung des Bundesinnenministeriums - all diese Faktoren denunzieren den bestehenden Konflikt und geben den Sport ein weiteres Mal an die Allianz der Betrüger preis. Der Sport, zeigt sich erneut, ist nicht der Vorreiter für eine neue Sachlichkeit im Sinne des Humanen.

 

Die Autorin ist ehemalige Weltklasse-Sprinterin und war 2001 Nebenklägerin im Doping-Prozess gegen die Drahtzieher des DDR-Zwangsdopings, Manfred Ewald und Manfred Höppner. Im vergangenen Jahr schob sie eine Debatte um "vergiftete" Rekorde in der Leichtathletik an, in dem sie ihren Namen aus einem Rekord streichen ließ, der gerichtsfest kriminell zustande gekommen war.