Diplomtrainer und Sportheilpraktiker -
Klettermaxes Treibstoff

 

Am Berg zu attackieren ist äußerst effektiv, aber auch das Schwerste, was es gibt. Bahamontes, Fuente konnten das zwanzigmal hintereinander, wie rammelnde Kaninchen. Alle Kletterer guten Durchschnitts warnen einander vor dieser Sorte von Männern. Nicht dranhängen? Doch dranhängen? Dann ziehen sie noch mal an, sie lassen dich am Gummiband krepieren. (Tim Krabbe)

Bahamontes, Fuente, Gaul, Pantani - die größten Bergfahrer in der Geschichte des Radsports, das waren kleine, unscheinbare, winzige Männchen, geschrumpft und energiegeladen wie Rosinen. Was sich dort abspielt in den Bergen, dort, wo die Schlachten geschlagen werden bei der Tour de France, das haben viele zu beschreiben versucht. Gelungen ist es nur zwei Autoren: dem früheren holländischen Amateurfahrer Tim Krabbe in seinem brillanten Buch „Das Rennen“ (Verlag Reclam Leipzig) und seinem Landsmann, dem ehemaligen Weltklasseprofi Peter Winnen, der in „Post aus Alpe d'Huez“ (Covadonga Verlag) die Qual des Kletterers so beschreibt:

„Erst bekam ich eine Gänsehaut. Dann machte sich wieder das Gefühl der Leere breit. Schließlich begannen die Muskeln sich wie verhedderte Schnüre anzufühlen. Von einem Zusammenhang zwischen meinen Gedanken konnte keine Rede mehr sein. Bis hierhin befand ich mich also auf bekanntem Terrain. Vier Kilometer vor dem Gipfel allerdings hätte ich unter Eid schwören können, daß ich nur noch aus einer leeren Hülle bestand. Darin befand sich ein Rauschen.“

So ist das, Rennradfahren ist ein harter Sport. 3600 Kilometer lang ist die Tour de France in diesem Jahr. Die längste Etappe führt über 228,5 Kilometer, aber nicht die langen Abschnitte sind das Problem, im großen Feld können die beschützten Kapitäne auch im 45er-Schnitt dahinrollen, da leiden nur die Tempomacher an der Spitze und jene, denen es nicht gut geht, die einen Virus in sich tragen, Fieber haben, die den Tag irgendwie überstehen müssen, um den nächsten zu erreichen. Auch die beiden Zeitfahren mit ihren insgesamt 109 Kilometern sind eine Quälerei, kein Windschatten, zweimal eine gute Stunde am großen Rad drehen, immer im roten Bereich. Die Entscheidungen aber fallen dort, wo die Luft dünner wird und die Straßen steiler. Zweiundzwanzig Berge der ersten, zweiten und höchsten (HC) Kategorie sind in diesem Jahr zu überqueren, diese Woche ist die Woche der Leiden mit den drei schwersten Bergetappen und hochalpinen Zielankünften: Alpe d'Huez am Dienstag, La Toussuire am Mittwoch, Morzine am Donnerstag. Mehr Quälerei geht nicht.

7,2 Watt pro Kilogramm Körpergewicht

Ein kleiner Ausflug in die Physik. Die Formel in den Bergen lautet vereinfacht so: Leistung gleich Systemgewicht (Fahrer plus Rad) mal Erdbeschleunigung mal Höhendifferenz durch Zeit. Rechnet man zusätzlich den Luft- und Rollwiderstand hinzu, so läßt sich die Leistung (in Watt), die ein Fahrer bei einem Anstieg erbringt, ziemlich genau ermitteln. Teilt man diese Wattzahl durch das Körpergewicht des Fahrers, so ergibt sich ein Wert, mit dem sich die Leistungen vergleichen lassen. Bei Pantanis Ritt 1997 hinauf nach Alpe d'Huez, der schnellsten Bergfahrt aller Zeiten, beträgt dieser Wert für die Fahrzeit von 37:35 Minuten rund 7,2 Watt pro Kilogramm Körpergewicht.

Den zweithöchsten jemals erreichten Wert errechnete der Schweizer Radstatistiker Manfred Nüscheler für den Schweizer Tony Rominger, der 1994 am Col de la Madone auf 6,9 W/kg kam. Jan Ullrich (6,8/Alpe d'Huez 1997), Miguel Indurain (6,79/La Plagne 1995), Richard Virenque (6,77/Alpe d'Huez 1997), Lance Armstrong (6,77/Sestriere 1997), Bjarne Riis (6,76/Hautacam/1996) und Alex Zülle (6,74/Alpe d'Huez 1995) folgen auf den Plätzen. Man könnte diese Liste auch als Doping-Hitparade lesen. Keiner der Fahrer steht im begründeten Verdacht, seine Leistung allein mit sauberen Mitteln erbracht zu haben, auch wenn einige ihre Karrieren zu Ende brachten, ohne überführt worden zu sein.

Bis 1987 war Doping „normal und akzeptiert“

Wer es wissen will, der weiß, was in den neunziger Jahren, der Hoch-Zeit des Bergfahrens und des Erythropoietin-Dopings, im Radsport geschehen ist. Bis 1987, sagt Peter Winnen, der zweimal (1981 und 1983) als Tour-Etappensieger in Alpe d'Huez ankam, sei Doping „normal und akzeptiert“ gewesen, aber vergleichsweise harmlos, noch war man auf der Suche nach dem Zaubertrank.

Dann war er gefunden. 1989 wurde Epo offiziell für den Arzneimittelmarkt zugelassen, im Radsport spielte es aber schon ein bis zwei Jahre früher eine Rolle. Epo wird bei Nierenleiden eingesetzt und hilft Krebspatienten nach einer Chemotherapie, es erhöht den Hämatokritwert, vermehrt also die Zahl der roten Blutkörperchen, und verbessert dadurch den Sauerstofftransport in die Muskulatur. Als Epo Ende der achtziger Jahre in der Radsportszene auftauchte, brachen Hektik und Panik aus. Alles veränderte sich, auch für Peter Winnen:

„Seit Einführung von Epo war ich sofort chancenlos, die größten Bauerntölpel ließen mich stehen. Das Niveau war mit einem Schlag wahnsinnig gestiegen. Seit dem Tag war Talent nicht mehr entscheidend. Es ging nicht nur um Epo, sondern um Cocktails von Epo, Wachstumshormone, Schilddrüsenhormone, Testosteron. Es war die Periode, als die Sportärzte im Peloton Fuß fassten.“

Die Sportärzte - das war zunächst die italienische Connection: Indurain, Rominger, Riis, Pantani und viele andere waren Kunden von Professor Francesco Conconi, der an der Universität Ferrara Epo-Forschung betrieb und den Treibstoff in den Sport einführte. Armstrong und Ullrich ließen sich von den Conconi-Schülern Michele Ferrari und Luigi Cecchini betreuen, Ullrich dann offenbar auch vom spanischen Arzt Eufemiano Fuentes, einem Spezialisten für Blutdoping, bei dem sich Pantani noch 2003, ein Jahr vor seinem Tod, nach den Unterlagen der Guardia Civil mit 40.000 Einheiten Epo, sieben Portionen Wachstumshormonen und dreißig Portionen Anabolika eingedeckt hat.

Dauerleistung von 530 Watt

Bis 1997, bis zur Einführung von Bluttests und der Festlegung des Hämatokritwertes auf 50 Prozent, war Epo faktisch frei einsetzbar. Die Leistungen explodierten, vor allem in den Bergen. Indurain trat bei der Tour 1995 im Anstieg nach La Plagne eine Dauerleistung von 530 Watt. Wer nicht mitmachte, konnte nicht mehr mithalten, schon gar nicht in der Spitze. Richard Virenque, einer der dreistesten Epo-Doper in der Geschichte des Radsports, schilderte seine Erfahrungen im rasenden Peloton so:

„1992 bin ich die Tour nur mit Wasser gefahren. Ohne alles. Keine Produkte zur besseren Erholung, keine Kortikoide, nichts. Am Abend bin ich gestorben. Ich hatte kaum noch Kraft zu essen.“

Mit dem richtigen Treibstoff sah die Welt für Virenque ganz anders aus. Von 1994 bis 1997 gewann er jeweils das Bergtrikot der Tour de France. Mit oder ohne Epo - der Unterschied war gewaltig, wie auch der frühere Schweizer Profi Rolf Järmann, der die Einnahme von Epo während seiner aktiven Zeit zugegeben hat, am eigenen Leib erfuhr:

„Der Unterschied zwischen einer Hochform mit oder ohne Epo war enorm, wenn die Form da ist, kann man superschnell fahren. Es ist ein unglaubliches Gefühl, eine Steigung, die man sonst mit 20 Stundenkilometern erklimmt, plötzlich mit 25 hinauffahren zu können.“

Nach 1997 ging es in der Dopingszene zunächst vor allem darum, die 50 Prozent „einzustellen“, mit Epo besser zu hantieren, den Zusammenhang zwischen Hämatokritwert und Absetztermin zu verstehen. Und dann ging - wie die Blut-Großbank des Horrordoktors Fuentes in Madrid zeigt - die Konzentration offenbar in großem Stil in Richtung Eigenblutdoping, hin zur Steuerung des fein justierten Wechsels von Blutverdickung und -verdünnung, mit der sich die Hämatokritwerte kurzfristig verändern lassen. Einen direkten Nachweis für Eigenblutdoping gibt es bis heute nicht.

 

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16.07.2006, von Michael Eder