«Die Vergangenheit ist nicht weit entfernt»
Ein interdisziplinärer Kongress über Doping in Bonn ortet eine Entkoppelung zwischen Reden und Tun. An einer kürzlich in Bonn durchgeführten Veranstaltung haben Ärzte, Juristen, Medienfachleute und Spitzensportler über Doping debattiert – mit ganz unterschiedlichen Schlussfolgerungen. «Geh da nicht hin», habe ihm seine Frau geraten. «Da sind nur die Leute von der Gegenseite.» Werner Franke, den seit Jahren eloquent und faktenreich streitenden Dopingkritiker, nahm es aber wunder, «was sie an diesem Kongress so machen», und er ist hingegangen. Die Sorge seiner Frau ist verständlich. Brigitte Berendonk, frühere DDR- und BRD-Spitzensportlerin, hat am eigenen Leib erlebt, was die «Gegenseite» so alles treibt. Dies hat sie in zahlreichen Publikationen auch schonungslos aufgedeckt. Franke: «Heuchlerische Funktionäre» Einen Beitrag zur schonungslosen Aufklärung der Dopingproblematik wollte auch der gemeinnützige Verein «Sport Transparency – für den sauberen Sport» leisten. Dieser hatte kürzlich zum «weltweit 1. Kongress dieser Art» nach Bonn eingeladen, einem interdisziplinären Anlass zum Thema Doping, an dem Mediziner, Juristen, Medienfachleute und Spitzensportler offen diskutieren sollten. Dem Verein ist es gelungen, zahlreiche renommierte Experten einzuladen, unter anderen eben Werner Franke, den Professor für Zellbiologie am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. «Deutschland gehört zu den korruptesten Ländern überhaupt», sagt Franke in seinem Referat und klagt diese «Gegenseite» an: heuchlerische Verbandsfunktionäre, verbrecherische Ärzte, willfährige Medienleute und gefällige Juristen. Er höhnt in den Saal des Wissenschaftszentrums hinaus, dass Heike Drechsler, Welt- und Olympiasiegerin im Weitsprung für die DDR und die BRD, heute als «Vorbild für die deutsche Jugend» gelte, obwohl aktenkundig sei, dass sie eine Dopingvergangenheit habe. Kirstin Otto, Olympiasiegerin im Schwimmen für die DDR, dürfe heute noch behaupten, niemals gedopt zu haben, obwohl auch hier das Gegenteil bewiesen sei. Otto ist heute Sportmoderatorin beim Fernsehsender ZDF. Keiner der Sportärzte, die eindeutig der Dopingpraktiken überführt worden seien, habe in Deutschland bisher seine Zulassung verloren, fährt er fort. Dies sei nur in einem System möglich, in dem Sportpolitik und Justiz so eng miteinander «klüngeln» würden. Mit einer Mischung aus Ironie und Zynismus zählt er die sportmedizinischen Greueltaten zu DDR-Zeiten auf und wie jene Trainer und Mediziner später den Übergang in den Westen nahtlos schafften. Die Fakten sind nicht neu, die Intensität des Vortrags von einem, der «keine Lust mehr hat, Höflichkeiten auszutauschen», musste aber auf alle Seiten provozieren. Als Erster sieht sich der Mediziner Jürgen Reul, Chefarzt der Beta-Klinik Bonn, veranlasst, seinen Berufsstand zu verteidigen. Er findet, dass man die Gegenwart und nicht die Vergangenheit bewältigen solle. «Die Vergangenheit ist nicht weit entfernt», schleudert Franke ihm entgegen und meint, dass das westliche System genauso verlogen funktioniere wie jenes damals in der DDR. «Entfesselung der Siegerorientierung» Es ist an Karl-Heinrich Bette, Professor für Sportwissenschaft an der Technischen Universität Darmstadt, dieses gegenwärtige System in einem etwas gestelzten, aber interessanten Vortrag zu erläutern. Der Spitzensport stehe in einer «Akteurenkonstellation», deren «oberster Prinzipal» das Publikum sei. Der Spitzensport lebe mit der «Drohkulisse Massenmedien, Wirtschaft und Politik». Dies habe zu einer «Entfesselung der Siegerorientierung» und einer «Anspruchsinflation» geführt, letztlich zu einer «Überforderung von Körper und Psyche». Als Folge sei eine «subversive Untergrundmoral» entstanden. Das bedeute, wer heute noch regeltreu Spitzensport betreibe, gelte als naiv und schlecht, oder umgekehrt: wer betrüge, handle diesen Untergrundregeln gemäß normal. Diese «dopingstimulierende Spirale» habe schließlich zu einer «Entkoppelung von Reden und Tun» und letztlich zu einer «Bigotterie» der Verbände, der Spitzensportler, der Wissenschafter, der Vertreter aus Wirtschaft und Politik geführt. In der Öffentlichkeit würde zwar der Anti-Doping-Kampf propagiert, im Hintergrund aber würden die Dopingpraktiken wenn nicht gefördert, so doch wissentlich toleriert. «Im Handball wird nicht gedopt», getraut sich Kurt Steuer kurz darauf zu sagen. Das wirkt dann fast gespenstisch, vor allem, da er womöglich ein Vertreter dieser «bigotten Gegenseite» ist. Steuer ist Chefarzt der Abteilung für Unfall- und Gelenkchirurgie am Waldkrankenhaus in Bonn und seit Jahren medizinischer Betreuer der deutschen Handball-Nationalmannschaft. Ulrike Spitz, die Kommunikationsleiterin der deutschen Anti-Doping-Agentur, muss ihm denn auch entgegenhalten, dass sie «keine Sportart von Dopingpraktiken ausschließen» könne. Genauso wenig konnte man bei einem der referierenden Experten ausschließen, dass er zu jener «Gegenseite» zählt, deren Reden und Tun «entkoppelt» ist – zugleich das Unheimliche und der Schwachpunkt derartiger Kongresse. Wie heikel Offenheit beim Thema Doping ist, zeigt auch die Liste der Abwesenden. Arnd Krüger, Geschäftsführer des Instituts für Sportwissenschaft der Universität Göttingen, hat seinen angekündigten Vortrag über «Die Idee der Freigabe von Doping» kurzfristig zurückgezogen. Zwei Medienfachleute, die über «die Doppelmoral der Sportjournalisten» und über «den Wandel der Sportberichterstattung» referieren wollten, haben abgesagt. Stephan Michelfelder, stellvertretender Justiziar des WDR in Köln, war ein ziemlich blasser Ersatz, um die unheilvolle Verstrickung der Medien in der Geschichte des Dopings im Spitzensport kritisch darzustellen. Es falle ihm schwer, eine optimistische Prognose zum Thema Doping abzugeben, noch sei die allgemeine Begeisterung für die Höchstleistungen zu groß, sagt er. Hier hätte der Veranstaltung ein Journalist gut getan, der weiß, was passiert, wenn er kritisch zum Thema Doping publizieren will. Auch die einstigen Spitzensportler, Fussballprofi Marco van Hoogdalem oder der langjährige Beachvolleyball-Profi und heutige Nationaltrainer Markus Diekmann, getrauten sich nicht, aus dem Innenleben des Sportsystems zu berichten. Dies hatte Patrik Sinkewitz zwar vor einem Jahr getan, als er öffentlich über die Dopingpraktiken im Radrennsport berichtete. Er wurde daraufhin von seinem Arbeitgeber Team T-Mobile entlassen. Jetzt sitzt er mit seinem Anwalt da in Bonn und klagt, dass er keine Arbeit findet. «Jeder lobt mich zwar für meine Haltung. Aber keiner hat gerade einen Platz im Team. Diese Begründung stört mich besonders», sagt Sinkewitz. «Wenn es bei dieser Ablehnung von reuigen Sündern bleibt, dann wackelt das Kronzeugen-Konzept», meint sein Anwalt Michael Lehner. Für den Sportjuristen aus Heidelberg ist diese Regelung aber nur dann ein gutes Mittel, wenn Kronzeugen eine zweite Chance bekommen: «Sonst können wir einpacken und uns von dem Gedanken verabschieden, das System aufzubrechen.» «Der Verdächtige ist gleich der Täter» Lehner provoziert in Bonn mit der Äußerung, dass das gängige Dopingsanktionssystem die Grundrechte des betroffenen Sportlers missachte. «Der Verdächtige ist gleich der Täter. Das Recht wird ausgeklammert», findet Lehner. Es müsse dringend eine internationale Regelung her. Es könne nicht sein, dass der italienische Dopingsünder Ivan Basso ein halbes Jahr vor Ablauf seiner Sperre schon einen Vertrag in der Tasche habe und vom internationalen Radsportverband UCI sogar als Doping-Beauftragter vorgeschlagen werde, derweil Sinkewitz weiter unter einem Berufsverbot zu leiden habe. Während Lehner eine Generalamnestie für geständige Doping-Sünder fordert, plädiert der Jurist und Sportmediziner Heiko Striegel auf dem Bonner Kongress für die Einführung der Straftatbestände der Wettbewerbsverfälschung im Sport und des Sportbetrugs. «Es genügt nicht, Dopingvergehen als Verbandssache anzusehen. Eine wirksame Bekämpfung des Dopings ist nur durch entsprechende Ermittlungsbefugnis der Strafverfolgungsbehörden und deren Ermittlungserfolge zu erreichen.» Wenn die Interpretationen des gängigen Rechts von Paul-Werner Beckmann mehrheitsfähig werden, dann setzen sich auch die Sportärzte künftig einem «eklatanten existenziellen Risiko» aus. Jeder ärztliche Eingriff erfülle in der Regel den Tatbestand der Körperverletzung, sagt der Rechtsanwalt und Notar. Selbst dann, wenn der Sportler seine Einwilligung in diese Straftat gebe. Denn die Einwilligung des Sportlers ist laut Beckmann «sittenwidrig». Sponsoren, Medien, Veranstalter und selbst der gedopte Sportler könnten mit einigem Erfolg beim Sportmediziner Haftpflichtforderungen reklamieren. Fast unbeachtet bleibt dann im Disput der Juristen die an sich brisante Äußerung von Wilhelm Schänzer, Leiter des Instituts für Biochemie an der Deutschen Sporthochschule Köln. Viele positive Dopingproben würden aufgrund von wissenschaftlich nicht vollständig abgesicherten Nachweisverfahren letztlich negativ erklärt. Ob dies aus vorauseilendem Respekt vor möglichen juristischen Verfahren geschehe, lässt er offen. «Überwachen und strafen» sei die gängige Devise in der Dopingbekämpfung, sagt der Soziologe Bette wohl in Anlehnung an den französischen Philosophen Michel Foucault. Als Soziologe komme man auf die Idee, dass alle profitierten und deshalb keiner der beteiligten Akteure wirklich ein Interesse daran habe, dass sich etwas ändere. Er sehe nur eine Lösung: Das System müsse geändert werden. Werner Franke sieht den Ansatz in der «schonungslosen Aufklärung». Zum Schluss seines Vortrages zitiert er aus der NZZ vom 11. 8. 92: «Vielleicht wird sich die Dopingfrage selber lösen durch Ermüdungserscheinungen bei den empörten Ethikern.» Mit den «empörten Ethikern» sei damals auch er gemeint gewesen. «Ich werde mich aber weiterhin empören», sagt der Wissenschafter.
11. Juni 2008, Neue Zürcher Zeitung. Von
Walter Aeschimann (Bonn) |