Diplomtrainer und
Sportheilpraktiker - "Vor Kontrollen
keine Scheu"
Nach Auffassung der spanischen
Ermittler hat sich Jan Ullrich auch während der Tour de France 2005 dopen
lassen.
Früher durfte Jan Ullrich noch bei
der Tour de France mitmachen (sofern er nicht am Knie verletzt war), und man
erlebte dann verschiedene Ausführungen des Wunderknaben aus Rostock. Der frühe
Tour-Ullrich stand meist nicht mit seinem Idealgewicht von rund 73 Kilogramm am
Start, denn das erarbeitete er sich erst in Frankreich. Der Tour-Ullrich der
zweiten Woche wog bereits weniger, aber er zählte bereits zu den Geschlagenen,
weil Lance Armstrong nicht allein als Meister im Umgang mit den Errungenschaften
der Pharmaindustrie galt, sondern er den Betrug immerhin mit legendärem
Trainingseifer kombinierte.
Denn wenn Ullrich im Frühjahr erst
allmählich in die Gänge kam und bei schlechtem Wetter gerne Unterschlupf suchte
in seiner gut 20000 Euro teuren Höhenkammer, die seinen Hobbykeller mit Fitness-
und Massageraum, Sauna und Sonnenbank komplettiert, kletterte der amerikanische
Seriensieger bei Wind und Wetter durch Alpen und Pyrenäen. Nur vor dem dritten
Tour-Ullrich hatte Armstrong stets ein wenig Furcht, denn der hatte dann endlich
Bestform.
Betrügerische Vorbereitung
Seit bald zwei Wochen nun scheint das vermeintliche Wunder relativiert, wie es
„das Jahrhunderttalent, dieser Wegstecker Ulle“ (sein langjähriger Trainer Peter
Becker) immer schaffen konnte, quasi in Rekordzeit und auf die letzte Minute vom
Stammgast der Wohnzimmercouch bis in den Rang eines Tourfavoriten aufzusteigen.
Nach Ansicht der spanischen Behörden ist Ullrich frühjährliches Blutdoping und
die Manipulation mit anderen verbotenen Substanzen nachgewiesen; beim Giro
d’Italia 2006 soll der inzwischen 32-Jährige beispielsweise laut der
Telefonprotokolle über Gespräche seines falschen Freundes Rudy Pevenage mit dem
kanarischen Giftmischer Eufemiano Fuentes dank der Unterstützung von verbotenen
Blut(re-)infusionen zum Zeitfahrsieg gerast sein.
Doch damit haben es Ullrich und
Pevenage offenbar nicht bewenden lassen, denn nach Überzeugung der Guardia Civil
nutzte der derzeit suspendierte T-Mobile-Kapitän sogar noch die erste
Aufwärmwoche der Tour de France, um dank Blutdoping und verbotenen Präparaten
für die vermeintlich entscheidenden Schlachten gewappnet zu sein. Dies geht
jedenfalls aus einem sichergestellten „Roadbook“ der Tour 2005 hervor, das die
Ermittler nach SZ-Informationen dem deutschen Radprofi zuordnen.
Nach Durchsicht der Dokumente lässt sich sagen, dass Ullrich zumindest im
vergangenen Jahr seine (selbst-) betrügerische Vorbereitung erst am Ende der
ersten Tourwoche abgeschlossen haben muss. Denn für die sieben Auftaktetappen
der Rundfahrt hatte Fuentes bei ihm für sechs Tage eine changierende Medikation
aus Hormonen, Insulin, Kortekoiden, Testosteron und auch einer präparierten
Bluteinheit vorgesehen.
Für den ersten Tag der Tour ist in Ullrichs Tourplan die Gabe des Hormons HM
eingetragen, für den zweiten das Insulin I-3, das Hormon TGN sowie Kortikoide,
für den dritten erneut TGN sowie PCH (dabei handelt es sich wohl um
Testosteronspritzen), für den vierten das Hormongemisch HMG und – nach einer
Pharmapause am Tag des fünften Abschnitts – für Tag sechs nochmals das Insulin
I-3 und schließlich zum Wochenabschluss eine Reinfusion Eigenbluts nebst
I-3-Dosis sowie das – legale – Vitamin E.
Dass sich Jan Ullrich laut den Polizeirecherchen sogar während seines
Saisonhöhepunktes im Juli dopte, belegt zum einen eindrucksvoll die bislang eher
geringe Scheu der Radprofis vor den Kontrollen. Zum anderen spricht es gegen die
Wirksamkeit des Kontrollsystems. Wilhelm Schänzer, Antidopingexperte und Leiter
des biochemischen IOC-Kontrolllabors in Köln, verblüfft beides nicht. „Man kann
sich schon fragen, ob die Anzahl der Kontrollen reicht“, sagt er, „nur die
Testosteron-Einnahme verwundert mich, denn das wäre nachweisbar.“ Schänzer
vermutet außerdem, dass etwa eine Kombination aus Wachstumshormonen und Insulin
die Energiebereitstellung verbessern solle, er sagt: „Dass Insulin im Wettkampf
genommen wird, überrascht mich nicht, denn es ergibt Sinn: Es ist ein
Gegenspieler zum Wachstumshormon und soll Überzuckerung und negative
Abbaueffekte beschränken.“
Bei der verbotenen Methode des Blutdopings geht Professor Schänzer davon aus,
dass den Fahrern „ein bis drei Wochen vor der Tour“ Blut abgenommen werde. Im
Gegenzug erhielten sie Eigenblut, das im Winter entnommen und tiefgefroren
stabilisiert worden ist – derlei Abgaben nach Saisonende sind auch für Ullrich
in den Akten notiert. Dieser Austausch führe in der Nähe von Wettkämpfen zu
einem halbwegs unauffälligen Blutbild. „Das ist dann eine Art
Plus-Minus-Null-Spiel“, erläutert Schänzer, deshalb könnten im Sommer weder
Team- noch Rennärzte Unauffälligkeiten der Blutbilder feststellen. Das kurz vor
der Tour entnommene Blut könne ebenfalls gefahrlos zurückgeführt werden, da es
wohl nicht tiefgefroren, sondern bei vier Grad gekühlt werde. „Das ist auch
praktikabel, denn um eingefrorenes Blut zurückzuführen, muss man wohl ins Labor
gehen, das ist kompliziert.“
Jan Ullrich hat sich gerne internen Kontrollen entzogen. Die Gründe dafür liegen
auf der Hand. Wessen Hilfe Ullrich bei den Bluttransfusionen in Anspruch nahm,
ist noch unklar. Doch wie andere Experten hält auch Schänzer die autodidaktische
Transfusions-Praxis bei Wettkämpfen von Ullrich und/oder Pevenage für „gut
denkbar“. Hinweise auf Unterstützung durch das medizinische oder
physiotherapeutische Betreuungspersonal des Teams gibt es bisher jedenfalls
nicht. Offen ist im Moment ebenfalls, welche Wege die Blutkonserven nahmen.
Offenbar muss man sich aber das mafiöse Netzwerk des Doktor Fuentes wie einen
europaweit dienstleistenden Pizzaservice vorstellen.
Die Kurierkosten werden vermutlich sogar inklusive gewesen sein, denn aus den
Dokumenten der spanischen Behörden geht auch hervor, dass jeder der prominenten
Kunden wie Ullrich, Ivan Basso, Tyler Hamilton, Santiago Botero oder Roberto
Heras pro Jahr 35000 Euro an Fuentes zahlte – eine Art Mitgliedsbeitrag. Pro
Renntag beim Giro oder bei der Tour waren weitere 1000 Euro fällig, für den
(früheren) Weltcup pauschal 5000 Euro. Die Quittung für die Teilnahme am
organisierten Betrug wird gerade erstellt.
(SZ vom 14.7.2006)
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