Diplomtrainer und
Sportheilpraktiker: Jan Ullrich gescheitert?
Tour der Wahrheit
Falsches Training, mangelnde Härte, zerstrittene Mannschaft: Warum
Jan Ullrich auf der Stelle tritt
Von Jürgen Schreiber, 21.07.05, www.spessart-biker.de
Der Tag, an dem Jan Ullrich unsterblich wurde, ist auch schon eine Weile
her. 27. Juli 1997, damals gewann er mit einem Vorsprung von neun
Minuten und neun Sekunden als erster Deutscher die Tour de France.
Was waren das für Bilder:
der 23-Jährige rollte im Gelben Trikot durchs Ziel in Paris, linkisch
nahm der Sieger die obligatorischen Küsschen der ebenso obligatorischen
Tour-Schönheiten entgegen. Auf den 3950 Kilometern wurde ein Star
geboren, Ullrich überwand die Schwerkraft in einem Stil, wie ihn so noch
keiner demonstriert hatte: Der Stoiker blieb an steilsten Rampen im
Sattel, demoralisierte Gegner durch knackige Gänge, die er scheinbar
mühelos abspulte, sah man davon ab, dass er dabei eine Schnute zog, die
als sympathische Eigenheit auszulegen war. Der fünfmalige Tour-Sieger
Bernard Hinault prophezeite, Jan werde die Große Schleife „noch sechs,
sieben Mal gewinnen“. Den Satz hätte in der neuen Rad-Nation Deutschland
jeder unterschrieben.
Jan Ullrich war in seinem besten Jahr „das As“, der „Himmelsstürmer“,
der „neue Sultan des Sattels“. Acht Jahre nach dem Triumph ist er zwar
immer noch ein Topverdiener, doch mit der Tour 2005 gilt es, Abschied zu
nehmen von der mit erheblichem PR-Aufwand und viel Zweckoptimismus
verbreiteten Idee, der gebürtige Rostocker werde die fleißig verteilten
Vorschusslorbeeren endlich mit einem weiteren Sieg danken. Vier Tage vor
Tour-Schluss ist es Zeit für die Erkenntnis, dass der Außerirdische
endgültig auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt worden ist. Armstrong
ist, was Ullrich werden wollte: unbezwingbar.
Die 92. Rundfahrt brachte Bilder, die sich weder mit Jans ästhetischem
Pedalieren von früher in Übereinstimmung bringen ließen noch mit dem
Anspruch, sich auf Augenhöhe mit „Lance“ zu bewegen. Erster Tag, erste
Szene, schon war ihr Zweikampf entschieden. Der Amerikaner gab
Autogramme, da rollte sich „Ulle“ für das Zeitfahren ein. Seine
Ausstrahlung signalisierte statt Spannkraft pure Nervosität. Die ganze
Körpersprache verriet: Ich werde einmal mehr der Urgewalt aus Texas
nicht gewachsen sein. Siegfried Kettmann, einst Forschungsgruppenleiter
Radsport in Leipzig und international anerkannter Fachmann, erzählt, er
sei am Fernseher erschrocken über den „dehydrierten, faltigen Jan“. Die
spürbare Verunsicherung war sicher mit eine Folge des bösen Sturzes vom
Vortag. Doch der Kenner sah ihn „auch fürchterlich auf der Maschine
schaukeln“, Zeichen mangelnder Kraft und Frische gleich zu Beginn.
Aufs Ganze gesehen hat Ullrich nach dem verjährten Tour-Sieg die
Verwandlung in einen Gejagten nie bewältigt. Damals hieß es, dem
rotschopfigen Engel wüchsen Flügel. Nun fliegen seine Rivalen vor ihm
die Spitzkehren hinauf. Schon vor Jahren prophezeite sein Förderer Peter
Becker, „man wird von dir als tragischer Figur reden“, zu wenig habe er
aus seinem Potenzial gemacht. Die (Sinn-)Krise 2002 markiert die Zäsur.
Ullrich nahm verbotene Aufputschmittel, wurde gesperrt, kam nie mehr
richtig in die Gänge. Aber noch nie gab es den nach Luft japsenden,
bemitleidenswerten Crack, der in Ax-3-Domaines aussah, als „habe ihn
jemand zehn Minuten in einen Tümpel getaucht“ („Süddeutsche Zeitung“).
Es gab jetzt Zielankünfte mit einem um Jahre Gealterten, kein Vergleich
mit dem Heroen, den man bei den roten DDR-Radlern zum wetterfesten
Allroundfahrer ausgebildet hatte. Von dem Trainer Becker schwärmte, er
sei „unverwüstlich“. Inzwischen 31, ist Ullrich längst nicht mehr der
„Ulle“, der keine Nerven zeigt, der als Amateur kein Rennen aufgab, auf
den Reporter das Bild des „Pfeils“ anwenden konnten, der nur so durch
die Lande zischt. Ihn zeichneten Tugenden aus, die es in dieser Mischung
hüben wie drüben noch nie gegeben hatte: ein eleganter Kraftbolzen,
Willensstärke sprang ihm aus den Augen. Er war bereit zur Schinderei,
erfüllt von Siegesträumen. Sein Coach sprach vom „Jahrhunderttalent“,
fügte hinzu, jeden Tag stelle sich die Frage, „wie bring ick et uff de
Straße“.
Leicht tut sich, wer den immer noch besten deutschen Radsportler aller
Zeiten abschreiben will. Von Siegertyp Jan ist inzwischen ein paar Mal
zu oft in der Vergangenheitsform die Rede gewesen. Vielleicht ist es ein
Teil des Problems, dass der Recke selbst dieser Erkenntnis beharrlich
aus dem Weg geht. „Gutes Herz, dummer Kopf“, behauptet einer, der seinen
Aufstieg hautnah miterlebte. Die Tour 2005 wird als Tour in die Annalen
eingehen, in der Ullrich immer neue Ausreden ins Feld führte: Stets
hoffte er, dass „meine Beine gut sind“, dann haben seine „Muskeln
übersäuert“. Dann glaubte er, „ich habe zu wenig gegessen“ und deshalb
eine weitere Minute verloren. Schließlich wollte er in den Bergen „Zeit
gut machen“, nudelte indes weiter hinterher. Trotzdem war er zufrieden
mit sich und der Welt: „Ich konnte gut mitrollen.“
Die Wahrheit hinter diesen Floskeln ist eine ganz andere.
Sportwissenschaftler Kettmann, der reihenweise Weltmeister und
Olympiasieger betreute, erkennt seit Jahr und Tag „keine
Belastungssteigerung“ mehr bei ihm. Einer aus Ullrichs Umgebung, der
namentlich nicht genannt werden will, kritisiert die „Eierkuchenrennen
rund um den Teller“, die der Champion beim Aufbau im Frühjahr bevorzuge.
Die Tour de Suisse falle doch streckenweise „unter Radtouristik“. Ein
Vertrauter berichtet, 2003 und 2004 habe Ullrich vor der Tour auf
komplexe Leistungstests verzichtet. In erreichter Wattzahl, maximaler
Sauerstoffaufnahme und Laktatwert geben sie unbestechlich Auskunft über
das, was er zu bringen im Stande sei. Er habe „den Prozess des
Abhärtens“ bis heute nicht begriffen, scheue die schweren Klassiker,
lerne nicht, dass man dem Körper vor der Tour „adäquate Leistungen
anbieten muss“. Er kurbelt daheim in der Unterdruckkammer Kilometer,
Armstrong fährt in Eis und Schnee draußen. Von erfolgsfixierten
Sportlehrern der alten DDR-Schule mag er sich nicht mehr in die Pflicht
nehmen lassen, umgekehrt firmieren Ullrichs Toskana-Trips bei den
Medaillenschmieden unter „Rumgammeln“ bis „Sonderfahrten“.
Bis zur Tour errechnete ein Intimus 27 Renntage für Jan in diesem Jahr,
das ergebe etwa 4100 Kilometer. Notwendig seien aber um die 60 solcher
Bewährungstests mit 10000 Wettkampfkilometern von den 25000, die einer
vom Schlage Ullrichs zum Start in den Beinen haben müsse. Weil schon
diese Basis bei ihm nicht stimmt, verlor der Kapitän schlicht die
Fähigkeit, bis zum Anschlag powern zu können, ihm fehlt der Biss, der
einst seine Stärke war. Diese Kraftausdauer entscheidet in den Alpen,
sobald die Oberschenkel glühen, Armstrongs Wahnsinnstruppe mit „40
Dingern“ anfährt, im Steilen Tempo 25 vorlegt. Nur wer solche Passagen
mit Tempo 18 übt, dabei ein Liedchen singen könne, statt auf dem letzten
Loch zu pfeifen, ist gut mit dabei, betont Kettmann. Früher lächelte Jan
nach höllischen Strapazen mindestens tapfer in die Objektive. Das
gehörte zur Psychologie eines Siegers, der enorme athletische
Fähigkeiten mit Unbekümmertheit auflud. Heute reicht es bei Ullrich gerade
noch zur Grimasse des Erschöpften. Die Zeit ist ihm davongelaufen, von
der er, blutjung, auf dem Zenit sagte: Er habe „noch viele gute Jahre
vor sich“. Nach vielen Siegen ist ihm auch die Besessenheit abhanden
gekommen. Einem, der es gut mit ihm meinte, erklärte Ullrich, er könne
und wolle sich nicht mehr das ganze Jahr quälen.
Es ist ja nicht der Star allein, der, zugegeben mit hohem Speed, auf der
Stelle tritt. Im T-Mobile-Team stimme es nicht, berichten Insider, es
gebe Teams im Team. Der Fahrer Steinhauser bringe auf dem Level nichts,
ist aber der Bruder von Ullrichs neuer Flamme Sara. Der Manager Olaf
Ludwig werde Ullrich nie verzeihen, wie sehr er sein Talent
verschleudere, wird kolportiert. Er führt eine teure Mannschaft ohne
jede Ausstrahlung, kein Vergleich mit dem Unternehmen Armstrong, das wie
ein Mann das Feld aufrollt. Bei Telekom war Sportdirektor Mario Kummer
als Aktiver ein erstklassiger Wasserträger, mehr auch nicht. Fachleute
vermissen „neue Elemente“ in der Truppe, woher sollen sie kommen, wenn
sich der Beste in dem gut bezahlten Beruf eingerichtet hat, ewiger
Zweiter oder Vierter zu sein? Ullrich sei von der Mentalität her gar
nicht imstande, morgens anzukündigen, „heute Abend haben wir das Ding im
Sack“. Der Crew fehle nicht nur ein Methodiker und Tüftler, sondern auch
ein Leitwolf wie Bjarne Riis. Niemand kann schlüssig erklären, wofür der
als Ullrichs „Berater“ deklarierte Rudy Pevenage gut sein soll. Die
wirren Statements des Belgiers dürften nicht nur an seinem miserablen
Deutsch liegen. Zur Erklärung von Jans Stagnation trägt er nichts bei,
von ihm heißt es dafür, er habe auf das Ende der erfolgreichen
Zusammenarbeit Ullrichs mit Trainer Becker gedrungen. Becker war zuletzt
der Einzige, der sich traute, Ullrich in den Senkel zu stellen.
Wahr ist auch: Die Misere ist bekannt und wurde gekonnt mit Magentafarbe
übertüncht. Doch beim „Kampf der Giganten“ lässt sich nichts vertuschen,
die Schludereien kommen heraus. Zu Ullrichs verflixter achter Tour gilt
es nach einem ersten, fünf zweiten und einem vierten Rang festzuhalten:
Keiner hat so wenig aus seinen Möglichkeiten gemacht wie er. Selbst wenn
es für ihn am Sonntag noch aufs Treppchen reichen sollte, bleibt es die
Rundfahrt der bitteren Wahrheit, Ullrich musste sich schinden wie nie,
ohne jedoch vom Fleck zu kommen. Fachleute meinen, er habe „zur
richtigen Zeit das Falsche gemacht“. Jan unterhält die Fans gern mit der
Frage, wie viel Übergewicht er aus dem Winter mitbringt. Nun sehen ihn
Experten auch in der dritten Tour-Woche noch nicht bei den 72 Kilo, die
einen Athleten seiner Güteklasse befähigen würden, Armstrong in die
Schranken zu weisen. Der wuchtet dann immer noch sechs Kilo weniger die
Rampen hoch. Nicht nur Analytiker Kettmann gab die Tour bereits
verloren, als er Liebling Jan bei der Schweiz-Rundfahrt am Berg hecheln
sah; einen namenlosen Spanier ließ er ziehen, statt ihn um 20 Minuten
abzuhängen. Mutmaßungen begleiten Ullrichs Trainingsfleiß, „motiviert,
aber unqualifiziert“ nennt ein Eingeweihter dessen Vorbereitung. Man
gibt nicht ungestraft die Naschkatze, auch das Phänomen Ullrich erliegt
dem Gesetz von Masse und Trägheit. Hier räche sich, dass er nichts von
Armstrongs Motto hält: „Nach der Tour ist vor der Tour.“ In der DDR hieß
es: „Man muss weltmeisterlich trainieren, um weltmeisterlich zu fahren.“
Ein effektiver Ullrich müsste spätestens ab November wieder schuften. An
Weihnachten dürfe er nicht mehr als 76 Kilo wiegen, nicht 80, die er
manchmal hatte. Im Dezember würden „Kilometer ohne Ende im Flachen“ zu
fahren sein, 4000 müssten ihm locker „verschrieben“ werden. So ginge es
im Januar weiter, mit Teamtraining auf Mallorca. Im Frühling schwere
Rennen, jeden Tag im Sattel sitzen und ackern, bis zu zwei Stunden
Krafttraining kämen hinzu. Ultrabrutale Einheiten am Berg seien
erforderlich, der Athlet müsse mit geschlossenen Augen die Strecke
aufzeichnen können, so intensiv müsse er sich mit dem Terrain
auseinander setzen. Ortskenntnis erleichtere Attacken, die ein
selbstbewusster Jan 1996, 97 und 98 tatsächlich demonstriert hatte. Dazu
sei er jetzt wegen mangelnder Fitness gar nicht mehr imstande. Die „Neue
Zürcher Zeitung“ verspottet sein „Portiönchen Angriffsgeist“. Es fehlt
ihm an Aggressivität, weil er „psychisch nicht überzeugt ist von seiner
Leistungsfähigkeit“, betont ein Trainer. Ullrichs Bilanz sei für einen
Fahrer mit dem Anspruch, Armstrong zu schlagen, „einfach blamabel. Das
reicht hinten und vorne nicht.“ Tatsächlich zehre er nur von seiner
sagenhaften Substanz.
Ullrich 2005: ein Gescheiterter auf hohem Niveau. Ex-Trainer Becker
guckt gar nicht mehr hin. „Ulle“ ist in Frankreich unterwegs, er geht
nahe Berlin auf die Jagd. Die Etappen liefen, Becker schoss derweil
einen kapitalen Bock.
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